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30.09.

kurzer exkurs über die zeit
(in vager erinnerung an ovid)

damals im alten ägypten
lag die zeit
in den händen der sonne
sonne und mond im wechsel
anker für tun und ruh’n

wandernde schatten
teilten den tag in sequenzen
schattenuhr, sonnenuhr

später im mittleren reich
maß die bewegung der sterne
die zeit
diagonalsternuhren helfen
den toten den himmel zu finden
das licht

auch bei den römern
noch sonne und wasser
ein turm der winde geht unter
mitsamt dem römischen reich

türme aber
bergen viel später
wir sind jetzt im mittleren alter
glocken
die geben die stunde
des betens bekannt
die stunde der
markt-und gerichtszeit
wann überhaupt
früh das stadttor sich öffnet
wandernde schatten sind
unzuverlässig
sagt man und denkt
an ein räderuhrwerk
das die rechte zeit
nahezu pünktlich bestimmt

schatten und licht
unvergessen
weisen nur kaum noch den weg
in die zeit

sand wär geeigneter
sagt man
in nürnberg und in venedig
da wo der sand
rieselt im richtigen takt

oder ein kerzendocht
wie er allmählich verbrennt
wir sind jetzt im
vierzehnten hundert nach christus

zweihundert jahre darauf trägt
die uhr ein gehäuse
zeigt sich in allerlei formengestalt
völlig der mode ergeben
zeitmessung rückt in den
schatten
schönheit und größe
ins licht
feder und ‚unrast‘ machen
die taschenuhr möglich
nürnberger ei

wenige sind im besitz dieses eies
kinder verkaufen die uhrzeit
werden noch immer geschickt
die zeit zu erkunden
rennen hin und her
die zeit im gepäck des gedächtnis
guter verdienst für
den kleinen beutel mit geld

aber zurück zur messung von zeit

nicht nur die schatten reisen
auch menschen
die kutschenuhr stellt die zeiger
an jedem längengrad neu
vier der minuten bloß sind es

aber der mensch reist schneller
als jemals zuvor
züge gleiten auf schienen
durchs land
verwirren die stunden
der schatten wandert
zu langsam
jeder erreichte ort hat
seine eigene zeit

einmal
wir zählen im neunzehnten hundert
stoßen zwei züge zusammen
fern, in der neuen welt
ein unfall mit vierzehn toten

menschen verfluchen das
wandernde licht
und die ungleichen schatten
suchen kontrolle über die stunden
zeitzonen
abgleich
beschlüsse
standartzeit
greenwich
nullmeridian
mittlere sonnenzeit
erste gültige weltzeit
fast alle länder einigen sich

nicht die franzosen
die stellen lieber doppelt die uhren
mit einem dritten zeiger
zwei für minuten
einer ist pünktlich fürs land, der andere für die welt
wir sind schon am ende des neunzehnten hunderts

präzisionszeitmesser
funktelegraphische zeit
synchronuhren nutzen das wechselstromnetz

letztes jahrhundert im alten jahrtausend
quarzuhr
aus der weltzeit wird
die universalzeit
es wird mit dem summerton –

kaum einer fragt noch das licht
und den schatten
nach der sekunde

atomuhr
internationale atomzeit
funkuhr
koordinierte weltzeit
gps-zeitscala

zeit wird geprüft, zergliedert, verglichen
niemals war die vermessung genauer als heut

ohne das licht aber
wäre sie nicht

wie der schatten
auch er ist ohne den lichtstrahl
ungeworfen

beide vergänglich
das licht aber bleibt in der welt
immerzu ist es irgendwo hell

Sibylle Schleicher

Sibylle Schleicher

Geb. 1960 in der Steiermark, nach einem Jahr USA 1979–82 Schauspielstudium in Graz.
Engagements an Bühnen in Graz, Darmstadt, Bielefeld, Kiel.
Zuletzt 13 Jahre Theater Ulm. Seitdem frei­schaffend.
Veröffentlichungen: Gedichte, Theaterstücke, ­Hörspiele und Romane.