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31.08.

Aus: Daniela Engist, Lichte Horizonte. Roman. KrönerEditionKlöpfer 2021.

 

Gleich hinterm Haus beginnt das flache Stück Land, das den Dünen vorgelagert ist. Der Sand streut bis hier, und der sandige Untergrund ist unterhöhlt von Nagetiergängen. Kaninchenland. Graue Kaninchen mit weißen Schwänzen huschen von einem Loch zum anderen, tauchen auf und verschwinden wieder in ihrer zweiten Welt unter den zähen Gräsern. Als Spaziergänger sollte man sich an die ausgetrampelten Pfade halten, um nicht einzubrechen. Dann geht es hinauf auf die Dünen mit ihren windgeschützten Senken. Die Schuhe laufen voll Sand. Kurz vor dem Scheitelpunkt öffnet sich der Blick aufs Meer, erst noch gerahmt von Grasbüscheln und Zaunpfählen, dann frei bis zum Horizont, wo sich die glänzenden Flecken verlieren, die die Sonnenstrahlen auf die bewegte Wasseroberfläche werfen, wo immer sie durch die Wolken treffen. Die Sonne steht hoch als milchige Scheibe hinter einem grauen Schleier und verteilt ihren Strahlenkranz auf der breiten Leinwand. Ich krame mein Handy heraus und mache Fotos.

Überall liegen Kiesel am Strand verstreut. Die Ebbe hat sie freigegeben. Ich kann nicht aufhören, nach schönen Exemplaren Ausschau zu halten. Da, der weiße Regelmäßige, wie ein Ei! Und dort, die schwarze Scheibe oder der Graue mit den weißen Ringen. Noch ein Weißer, noch ein. Schwarzer. Einen nach dem anderen hebe ich auf, reibe ihn. sauber, stecke ihn in meine Tasche, die mit der Zeit schwer wird. Am Ende kippe ich alle wieder aus. Nur das weiße Ei. behalte ich. Ich hocke mich neben meinen Steinhaufen in den aufgewärmten Sand.

Was ist das für ein Prozess, der aus all dem Material etwas entstehen lässt, was jenseits oder zwischen dem Material liegt, was darüber hinausgeht? Und dann machen die Figuren doch immer nur das Unausweichliche. Als ob etwas in. ihnen angelegt wäre, das erst beim Schreiben zum Vorschein kommt. Und die Menschen? Die machen auch immer nur, was in ihnen angelegt ist, ob sie wollen oder nicht.

Ein einsamer Spaziergänger mit Hund taucht auf. Der Hund jagt voraus, bleibt stehen, jagt zurück. Er läuft zum Wasserrand, bleibt stehen, läuft in die Wellen und bellt aufgeregt gegen die Gischt, dann jagt er wieder seinem Herrchen hinterher. Sie gehen eine Weile Seite an Seite. Der Hund bleibt stehen, gräbt, der Mann geht immer weiter. Er geht, und der Hund gräbt. Es ist die Hundenatur, die ihn graben lässt, denke ich, und beobachte gespannt, wie weit sich das unsichtbare Band, das den Hund an den Herrn bindet, dehnen lässt. Wie weit kann man sich voneinander entfernen, ohne den anderen zu verlieren? Wie bleibt man sich selber treu, ohne dem anderen untreu zu werden?

Die Kiesel liegen in sauber getrennten Häufchen vor mir. Ich habe sie der Farbe nach sortiert! Jetzt mach was draus, denke ich und beginne ein Muster zu legen. Immer einen Stein einer Färbung nach dem anderen. Nicht besonders einfallsreich. Picturesque travels. Ich krame mein Handy heraus und lösche alle Strandfotos wieder.

Dann schlage ich den Weg zur Pointe de la Torche ein. Seit langem nagt das Meer an der Landzunge, die zur Insel zu werden droht. Unterhalb des prähistorischen Dolmens setze ich mich auf eine Holzstufe. Von hier immer nach Westen, wo würde man landen? Irgendwo in der Neuen Welt, Nova Scotia vermutlich. Dass die Menschen immer das Alte mit ins Neue nehmen müssen: Neu-Schottland, Neu-England, Neu-York, Neu-Jersey. Am Horizont ist das Meer wie aus Blei, fest verlötet mit dem helleren Grau des Himmels, die Naht wie mit dem Lineal gezogen, die waagerechteste Linie, die man sich vorstellen kann.

Daniela Engist, 1971 bei Schwäbisch Gmünd geboren, lebt mit ihrer Familie in Freiburg im Breisgau. Sie studierte Germanistik, Anglistik und Musikwissenschaft, promovierte im Bereich Linguistik über Sprachwandel und arbeitete als freie Journalistin und Managerin für Kommunikation und Public Relations. Nach dreizehn Jahren bei multinationalen Konzernen in der Schweiz tauschte sie Brot gegen Kunst und widmet sich seitdem dem literarischen Schreiben. Bisher erschienen die Romane „Kleins Große Sache“ (2017) bei Klöpfer & Meyer und „Lichte Horizonte“ (2021) in der Edition Klöpfer bei Kröner, sowie Erzählungen in Anthologien.