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SUNDER WARUMBE

schwimmst du durch den verwilderten tag
stellst keine fragen
aber dein körper

stellt sich in den garten
neben die buche die du bewunderst
sunder warumbe

du wirst zum zeiger
in einer sonnenuhr
sunder warumbe

 

EINFÜHRUNG IN DIE POESIE
Käsmu, Estland

die stille macht benommen
das späte licht des sommers
immer das späte

das plötzlich zu schärfen beginnt
die ohren gehen auf empfang
das säuseln des abgangs

nein, kiefer und birke
die zeit spricht nicht
der specht klopft an

wie ein mensch an der tür
immer wartest du auf ein anklopfen

auf eine erscheinung
worte zeilen

einen moment lang musst du
nichts verändern

 

DIE ZUDRINGLICHKEIT DES LICHTS

jetzt glitzert wieder der neckar
es wird doch wieder frühling
ich falle durch einen tunnel
ins erdinnere durch jahre
es wird immer kälter oder wärmer?
ab einem gewissen grad verwischt sich das empfinden
mit echo im raum vergesse ich
die zudringlichkeit des lichts

 

STREIFLICHT, NÖRDLICH

plötzlich ist das streiflicht schärfer
und der wind, durchsichtig, riecht nach herbst
über nacht angekommen
liegt doch kein boot im hafen

hat sich hinter deinen augen eingerichtet  
sich bei der holzbeuge niedergelassen
als wäre der herbst (the fall) ein zustand
und nicht ein licht, ein geruch
du fühlst dich fiebrig
der sommer hockt in dir
will nicht weichen

 

VENEDIG, BEWEGUNGEN

wohin geht licht das nicht alt werden kann
auch wenn das gestirn abtaucht
auf die abgewandte seite

wenn wellen sich verlieren
wie diese dunklen stunden manchmal
abgewandt

bis das helle auf den kanälen
die schwimmenden farben auf dem wasser
diesen zuständen fragen stellen

woher die wellen kommen
und wie lange es dauert
bis es vor einem objektiv, in deinen augen

im schwindligen jetzt anbrandet
dann wird das dunkel absorbiert

bei allem was von alleine passiert entsteht licht

 

DIE ERDE LEGT IN JEDER SEKUNDE

dreißig kilometer zurück

wir fallen nicht runter
nur vom baum fallen ab
von freunden theorien der liebe

ein tier mit allangst
vor geschwindigkeit
vergesse ich dass die sonne
noch schneller
und der wind?

dabei rühre ich mich nur
um den schatten der kaffeetasse
ins licht zu rücken
zu wärmen

 

ENTFALTUNG

Bitte nicht Corona
nicht mehr hören
auch nicht Covid
oder irgendein Wort

Sehen:
die Buche
jetzt
wie sie rund 30000 Blätter
hinausschickt
in das Licht
die Atmosphäre
die Erde
das All
und was es darüber hinaus
noch geben soll
Expansion
Entfaltung
da wären wir wieder

EVA CHRISTINA ZELLER

1960 in Ulm geboren, lebt in ­Tübingen. Studium der ­Philosophie, Germanistik, Theaterwissenschaft und Rhetorik in Berlin und Tübingen. 1988 Lektorin an der University of Otago, Dunedin, Neuseeland. Ausgedehnte Reisen. Verschiedene Stipendien.
Sie hat acht eigenständige Gedicht­bände, Prosa in Anthologien und eine wissenschaftliche ­Arbeit über Ingeborg Bachmann veröffentlicht. Für „Folg ich dem Wasser“ erhielt sie 1989 den „Thaddäus-Troll-Preis“.
Ihr Theaterstück „Tod in Tübingen“, das sie zusammen mit ihrem Verlagskollegen Joachim Zelter schrieb, wurde am 2008 vom Zimmertheater Tübingen als Sommertheater ­uraufgeführt. 2009 erhielt sie für ihren Theatermonolog „An die Arbeit“ den Preis der Bundesakademie Wolfen­büttel, 2010 das Esslinger Bahnwärterstipendium. 2010 war sie Finalistin beim Lyrikpreis Meran. 2012 wurde ihr Theaterstück „An die Arbeit!“ von der WLB in Esslingen ­uraufgeführt. Im August 2012 erschien ihr Gedichtband „Die Erfindung deiner Anwesenheit“ im Verlag Klöpfer &­ Meyer, Tübingen, für den sie das Venedig-Stipendium des Kulturstaatsministeriums für 2014 erhielt. Ebenfalls 2014 bekam sie den Preis des Förderkreises dt. Schriftsteller in Baden-Württemberg für ihren Text „Ich bin solidarisch“. 2016 wurde der Gedichtband „Auf Wasser schreiben“ ­veröffentlicht und 2020 der Band „Proviant von einer ­unbewohnten Insel“ mit Naturgedichten. Sie ist Mitglied
im VS und PEN.